Unsere Welt von gestern

Ein Beitrag zur Coronakrise

To keep a stiff upper lip, pflegen die Briten zu sagen, um selbst in Situationen Haltung zu wahren, in denen eine Sache im Leben wirklich schlecht für sie gelaufen ist. Das soll keine apokalyptische Kolumne werden, aber die aktuellen Entwicklungen um die weltweite Ausbreitung des neuartigen Sars-CoV-2 Virus haben für alle von uns dramatische Folgen. Schreiben hilft mir Thematiken zu analysieren, deshalb findet man hier den einmillionsten Beitrag dazu.

Der Schriftsteller Stefan Zweig beschreibt in seinem Werk „Die Welt von Gestern – Erinnerungen eines Europäers“ den tiefgreifenden Wandel der Welt im auslaufenden 19. Jahrhundert. Viele alte Gewissheiten wurden obsolet und mussten über Bord geworfen werden. Die aus anderen Gründen nach wie vor dringende Aktualität dieses Buches schlägt dennoch die Brücke zur Gegenwart. Scheinbar für ewig geltende Sicherheiten und Annahmen waren in Zweigs autobiografischer Schilderung plötzlich hinfällig und wurden vom Wandel der Zeit überholt. Ähnlich paralysiert fühle ich mich im Moment, angesichts der Entwicklungen in den letzten Wochen. In atemberaubender Geschwindigkeit überschlagen sich die Ereignisse. Anstatt in einer schlaflosen Nacht einen Blogeintrag zu erstellen, wollte ich eigentlich mit Freunden im Radtrainingslager in Südfrankreich weilen. Nichts erscheint mir gerade so fern, wie diese Vorstellung.

Wer hätte zum letzten Jahreswechsel ernsthaft geglaubt, dass unsere globalisierte, auf stetiges Wachstum getrimmte Welt wegen eines scheinbar lokalen Virusausbruchs im ach so fernen China eine solch unvergleichliche Vollbremsung hinlegen würde? Ich persönlich habe die Vorgänge in Wuhan eher als Überreaktion einer autoritären Regierung wahrgenommen, die ihre Bürger gern mit überzogener Überwachung und Kontrolle drangsaliert. Dass dem nicht so war, musste ich jetzt schmerzlich erfahren. Gestoppt werden wir in unserer nicht zu leugnenden Hybris aber nicht von einem gigantischen Vulkanausbruch oder von einem spektakulären Meteoriteneinschlag, sondern von einem winzig kleinen Virus, zwanzig mal kleiner als ein Bakterium.

Als wäre es gestern gewesen, erinnere ich mich an eine lebhafte Diskussion in einem Business-Englisch-Seminar während meines Studiums, über die Chancen der Globalisierung. Alle Diskutanten waren sich einig, welche großartigen Möglichkeiten weltumspannende Produktionsnetze bieten würden. Zum Beispiel telefonischer Kundensupport rund um die Uhr, Weiterentwicklung armer Regionen, die kostengünstige Herstellung hochwertiger Güter, die weltweite Verbesserung des Wohlstandes, der Ausbau der Flugverbindungen und damit freizügiger Reiseverkehr und so fort. Gut zwanzig Jahre später muss ich leider erkennen, welchen Preis eine solche Denkweise haben kann. Auch ein neuartiges Virus kann in einer globalisierten Welt in wenigen Tagen sehr weit reisen. Außerdem muss man sich ehrlicherweise eingestehen, dass die Entwicklung des Wohlstandes durchaus sehr einseitig zu Gunsten einiger weniger globaler Mitspieler stattgefunden hat. Ich glaube nicht an göttliche Vorsehung, aber im Moment erscheint mir die ausufernde Pandemie wie ein letzter Weckruf der Erde vor den noch viel dramatischeren Folgen des menschengemachten Klimawandels. Was die FridaysForFuture-Bewegung in Jahren unermüdlichen Protests nicht erreicht hat, schafft ein simples Virus in wenigen Monaten. Jedoch zu welchem Preis?

Die Folgen der sich entwickelnden Pandemie sind bereits jetzt verheerend. Dabei klingt eine geschätzte Letalität von ca. 0,7 Prozent zunächst beherrschbar. Die fehlende Immunität der Menschen gegenüber dem neuartigen Virus zusammen mit der Möglichkeit der exponentiellen Ausbreitung, lässt es jedoch zur unsichtbaren diffusen Bedrohung werden, die das uns bekannte Leben vollkommen ad absurdum führt. Obgleich die Virusinfektion in vielen Fällen harmlos oder sogar nahezu symptomfrei verlaufen kann, so gibt es doch bei vermutlich bis zu 20 Prozent der Betroffenen, schwere und dringend behandlungsbedürftige Verläufe. Was dies bei zehn oder zwanzig Millionen gleichzeitig infizierten Personen bedeuten würde, will man sich lieber nicht ausmalen. Die aktuellen Zahlen aus Italien, von 800(!) Toten pro Tag, geben eine Vorahnung, was bei einer wenig gebremsten Ausbreitung passieren kann.

Unter exponentiellem Wachstum können sich viele Leute nichts Konkretes vorstellen, zur Veranschaulichung lohnt es sich nach der Weizenkornlegende zu googeln, die man sich über den Erfinder des Schachspiels erzählt. Selbst wenn die imaginäre Bedrohung durch das Virus bei schönstem Frühlingswetter mit Sonnenschein vollkommen unrealistisch erscheint, so sind die verfügten Maßnahmen zur Vermeidung jeglicher unnötiger Kontakte mit anderen Personen eben wegen der exponentiellen Ausbreitung unumgänglich, um unser Gesundheitssystem vor dem Kollaps zu bewahren.

Die vorläufige komplette Isolation erscheint damit zur Verhinderung einer humanitären Katastrophe vernünftig, gleichzeitig bedeutet die Abflachung der Verlaufskurve eben auch eine zeitliche Ausdehnung. Dieses Dilemma bringt uns zu den wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise, die bereits jetzt gravierend sind. Die Talfahrt der Börsenkurse, die faktischen Totalausfälle in der Tourismusindustrie, im Hotel- und Gaststättengewerbe sowie der Produktionsstopp in großen Teilen der Wirtschaft werden weitreichende Konsequenzen haben. Dazu kommt die Ungewissheit wie lange der selbst verordnete Ausnahmezustand wird andauern müssen. Ganz zu schweigen von der weltweiten Entwicklung.

Eines kann man definitiv bereits jetzt feststellen, unser Leben danach wird nicht mehr das Leben sein, das wir bisher kannten. Ich kann mir vorstellen, dass man nicht umhinkommen wird, alle bisher gültigen Normen im sozialen Umgang miteinander als auch unsere Reisegewohnheiten komplett zu überdenken. Auch wenn es in Europa noch unvorstellbar erscheint, vielleicht gehen wir bald alle mit Mundschutz nach draußen, zur Schule und zur Arbeit, einfach um die anderen zu schützen. Ein kompletter Shutdown über mehrere Monate oder gar Jahre ist jedenfalls nicht realisierbar.

Bleibt gesund!
#StayAtHome